Institutionelle Werte können eine gute Grundlage schaffen. Sie können Orientierung und Sicherheit geben, wofür ich oder die Institution steht. Sie können uns immer wieder daran erinnern, was uns wichtig ist, Identität stiften und uns unterstützen gemeinsame Zielvorstellungen zu verfolgen.
Werte haben jedoch nur so lange eine Bedeutung, als dass sie auch gelebt werden.
Angenommen eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche orientiert sich in ihrem Leitbild an Werten wie; gegenseitige Wertschätzung, Respekt, Achtsamkeit, Vertrauen, Vergebung und Nächstenliebe. Gleichzeitig bestehen innerhalb derselben Institution Strukturen wie Reglementierungen, Kontrolle, Disziplinierung, Verhaltensanpassung mittels strafenden und sanktionierenden Massnahmen. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?
Gilt also ein festgelegter Regelkatalog, an den sich die Kinder halten müssen – ist im vornherein schon klar, dass bei «Regelbrüchen» eine Sanktion folgen muss, weil es dieser – per se machtvolle Mechanismus, so vorsieht. Erwachsene Menschen fungieren dann als Gesetzeshüter, Kontrolleure und Richter und verhindern eine gegenseitige wertschätzende Beziehung im vornherein. Es besteht also die Gefahr, dass lediglich an einer Form festgehalten wird und das was als Wert vermittelt werden will, nicht gelebt wird. Vertrauen kann nicht durch ein Kontrollmechanismus erzeugt werden – im Gegenteil, er erweckt Misstrauen und sendet die Botschaft; ich traue dir nicht, deshalb brauchen wir Regeln und Kontrolle.
Respektvolle Beziehungen können weder durch Strafen noch durch Sanktionen entstehen, sie demütigen, sind verletzend, machen den anderen klein und sind schädlich für die Beziehung und die Entwicklung. Sie zerstören das Mitgefühl und die Sensibilität für andere und sich selbst. Sie zerstören auf längere Sicht die Fähigkeit, sich einzufühlen sowie Empathie zu entwickeln und produzieren Ärger und Wut beim Kind und den Wunsch nach Rache. Ausserdem führen sie zu Beeinträchtigung der Entwicklung von Emotionen. Das Ziel von Bestrafung ist, Autorität durchzusetzen. Wir sähen also Zwietracht, Kampf und Trennung und nutzen unsere Macht aus; ich bin mehr wert als du, denn ich habe die Macht; du bist nicht okay so wie du bist, ich möchte, dass du anders bist.
Vermitteln wir ausschliesslich Manieren und Konventionen, wie sie manchmal durch eine «Hausordnung» oder «unsere Regeln des Zusammenlebens» an Kinder und Jugendliche herangetragen werden, dann vermitteln wir ausschliesslich eine Form, eine Konvention oder ein bestimmtes Normverhalten und vernachlässigen jedoch, um was es eigentlich geht.
Gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung erfahren die jungen Menschen, indem man ihnen auf diese Weise begegnet. Wir drücken unsere Werte aus, indem wir uns entsprechend zueinander, miteinander verhalten. Ist es der Institution wichtig, dass beispielsweise alle pünktlich zum Essen erscheinen, dann kann man bei Zuspätkommen im Sinne eines Regelverstosses mit einer Sanktion reagieren. Werden die Werte jedoch wirklich gelebt, dann signalisieren wir, dass wir eben achtsam miteinander umgehen und dass jeder in der Gemeinschaft wichtig ist. Das heisst, wir warten auf jeden und besprechen dann, was dazu geführt hat, dass es zu einer Verspätung gekommen ist. Wir signalisieren also echtes Interesse, hören zu und verstehen aus der Sicht des Kindes, weshalb es nicht geklappt hat. Wir suchen dann in der Folge nach Lösungen oder Hilfestellungen, damit das pünktliche Erscheinen gelingen kann.
Hier besteht also eine Verwechslungsgefahr, nämlich wenn beispielsweise Erzieher*innen oder Lehrpersonen statt von der persönlichen Gefühlslage – von Institutionellen Erwartungen sprechen. Also: wir wollen das eine Regel eingehalten wird oder die Kinder und Jugendlichen sind uns wichtig und wertvoll. Hier kann helfen, die Gedanken noch einmal zu überprüfen. Geht es wirklich um den Menschen oder geht es um ein bestimmtes Verhalten, welches wir als «richtig» beurteilen und einzufordern versuchen.
Wieviel darf man selbst sein, ohne dass man aus der Verbindung fällt mit dem anderen oder aus dieser Gruppe/Gemeinschaft? Ein klassisches Regelwerk signalisiert also in erster Linie, dass Kinder und Jugendliche okay sind, solange sie sich anpassen und das von uns gewünschte Verhalten zeigen, ihre Bedürfnisse und Gefühle jedoch, zählen nichts.
Ein liebevoller, gewaltfreier Umgang, der von Wertschätzung und Achtsamkeit geprägt ist, ist die Grundlage für ein gesundes Selbstwertgefühl. Kinder, welche nie gelernt haben, dass sie es wert sind, gut behandelt und nein sagen dürfen, können Erwachsenen werden, die nicht in der Lage sind, sich abzugrenzen, für sich zu sorgen oder ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt zu erkennen. Sie haben die Erfahrung gemacht, selbst keine Kontrolle zu haben, und werden im späteren Leben häufig zu Menschen, welchen Kontrolle sehr wichtig ist oder Menschen, welche es allen recht machen wollen.
Der vermeintlichen Erfolge, welche Grenzen, Regeln, Sanktionen oder Strafen – haben, haben darüber hinaus einen Anpassungscharakter, welcher dazu führt, dass Kinder sich in der Folge – da ihnen schlicht weg nichts anderes übrig bleibt, so verhalten müssen, wie es verlangt wird. Nur weil Kinder nach Aussen ruhiger und angepasster werden, sich anders verhalten, heisst es nicht, dass es ihnen innerlich besser oder gar gut geht. Denn ihre Bedürfnissen werden in der Regel missachtet und nicht gesehen, wesentliche emotionale Grundbedürfnisse bleiben unerfüllt und Grenzen werden permanent übertreten, im Gegenzug erwartet man von ihnen, dass unsere Grenze gewahrt wird.
Viele Erwachsene Menschen haben in ihrer Kindheit gelernt; nur wenn ich gehorche und mich anpasse, werde ich geliebt. Eigene Bedürfnisse wurden unterdrückt, weil vielleicht mit Bestrafung oder einer Konsequenz zu rechnen war. „Ich muss es allen recht machen“ oder „ich darf nicht nein sagen“ ein Glaubenssatz, welcher aus der Kindheit stammt. Wenn wir für Kinder und Jugendliche möchten, dass sie zu selbstständigen und eigenständigen Persönlichkeiten heranwachsen und vor allem im Hinblick auf sexuelle Übergriffe einen Umgang erlernen um sich abgrenzen zu können, wäre es jedoch wichtig und richtig, nein zu sagen!
Werte lassen sich leben, indem wir wertschätzend hinter das Verhalten blicken und wir ein Interesse daran haben, zu verstehen, welches Gefühl das Verhalten motiviert hat und welches emotionale Bedürfnis nach Erfüllung sucht. So kann sich eine Institution innerhalb von Regelungen bewegen, welche es zulassen, den Menschen ohne manipulative Mechanismen unter Kontrolle zu halten. Denn wenn Kinder und Jugendliche Respekt, Vertrauen, Wertschätzung erfahren, werden sie sich auch wertschätzend verhalten. Wir bewerten und Korrigieren also ein Verhalten nicht, sondern wir verstehen und begleiten es. Es gibt einen Weg über das Erkennen der wesentlichen emotionalen Bedürfnisse. Wenn wir diese erkannt haben, können wir sie nähren und stillen und das Verhalten wird sich über die gestillten Bedürfnisse verändern. Es entsteht eine verbindende Beziehung anstelle einem trennenden Beziehungsabbruch. So kann die Botschaft hinter den Werten lauten: Ich habe Grenzen und andere haben Grenzen. Meine Gefühle sind wichtig und richtig und ich werde in meiner Not gesehen, verstanden und begleitet. Ich bin auch dann noch okay, wenn ich in meiner emotionalen Not unerwünschtes Verhalten zeige. Denn dann brauche ich deine Zuwendung am meisten.
Zudem ergibt sich die Chance individuelle Beziehungsgeflechte zu analysieren und das Kind in seinem Lebenskontext und ihre Wechselwirkung zu verstehen. Es lassen sich Rahmenbedingungen schaffen, die es erlauben, das Kind nicht lediglich in seinem Verhalten zu beurteilen bzw. zu verurteilen. Es kann zu einer Selbstreflexion des Erzieher*in und zu einem Perspektivenwechsel kommen und Antworten über das eigene Verhalten liefern. Denn der Betrachter entscheidet, wie das Verhalten wahrgenommen wird. Was sagt mein Verhalten als Bezugsperson über die Beziehung zu dem Kind aus? Welche Gefühle lösen diese Verhaltensweisen bei mir aus?
Diese Wege sind zwar oft erst einmal ungewohnt und bedürfen einiger Beziehungsarbeit und es braucht eine Offenheit und Unvoreingenommenheit für eine neue Sichtweise, was Kinder brauchen. Sie sind aber, für eine psychisch gesunde Entwicklung unabdingbar und aus bindungs- und beziehungsorientierter Sicht, jedenfalls nachhaltiger und lohnend.
Um das Ausgangsthema wieder aufzugreifen, möchte ich an dieser Stelle auf Werte hinweisen, welche einen anderen Blick auf das Kind und einen Perspektivwechsel erlauben und um alte Mechanismen hinter uns zu lassen.
Verantwortung statt Bewertung, Achtsamkeit statt Strafe, Wertschätzung statt Abwertung, Vertrauen statt Kontrolle, Miteinander statt Gegeneinander, Dialog statt Monolog, Gleichwertige, konstruktive Beziehung statt belasteter Beziehung.