Kleine Episoden, vom Druck erziehen zu müssen.

„Das tut man nicht – das sagt man nicht!“

Es benötigt nur eine kurze Zeitspanne, wenn man sich an Orten aufhält, welche für Familien attraktiv sind, bis einem solche oder ähnliche Sätze zu Ohren kommen.

Zwei Jungs auf dem Fahrrad unterwegs mit ihren Eltern am Thunersee. Der eine etwa vier, der andere vielleicht sechs. Vorne der Kleine lautstark am Schreien, hinterher der Ältere – mit einer Hand am Lenker, in der anderen Hand einen dicken Ast – entschlossen, diesen dem Jüngeren gezielt anzuwerfen. Was vorher geschehen ist und wie es dazu kam, ist mir unbekannt (und wahrscheinlich den Eltern auch).

Der Grössere wirft und zielt daneben. Der Kleinere schreit immer noch.

Energisch kommt der Vater zum Geschehen, packt den Grösseren am Arm, geht hinunter auf Augenhöhe und insistiert mit ernsthafter Stimme – seiner elterlichen Verpflichtung nachkommend: «Geht’s noch?! Das darfst du nicht tun, hörst du, das will ich nie mehr sehen, dass ist sehr gefährlich, du könntest deinen Bruder verletzen!»

Dem kleineren Jungen, streicht man sanft durch das Haar und signalisiert – alles gut und spendet so Trost.

Recht hat er, der Vater, das Kind muss lernen, das so ein Verhalten nicht erwünscht ist. Er muss auch noch verstehen weshalb und was die Folgen davon sein können.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem mehr als 90% der Eltern zustimmen und ebenso handeln. Deren Beispiele gibt es Unzählige, welche sich in dieser oder ähnlichen Weise abspielen. Ein Kind tut etwas, was man eben nicht tun soll, was in der Gesellschaft nicht erwünscht ist und muss die Konsequenzen für sein Handeln spüren. Vielleicht noch untermauert mit einer Strafe oder Konsequenz, damit der Lerneffekt erfolgreich ist. Gängige Erziehungsmassnahmen eben!

«Ja aber…entgegnen Sie mir vermutlich jetzt schon».

Ich verstehe diesen Impuls sehr gut. Und es gibt andere, konstruktivere Handlungsalternativen – solche, welche nicht auf der Verhaltensebene agieren.

Sehen wir uns das obige Szenario noch einmal an. Der Vater nimmt wahr, dass der Ältere ziemlich wütend ist – unter der Voraussetzung, ihm gelingt der Perspektivwechsel und mit der notwendigen Empathie (sich einfühlen können in Andere). 

Als verantwortlicher Elternteil hat er die Aufgabe, die Kinder vor einer möglichen Verletzung zu schützen. Gelingt dies – wie im obigen Beispiel nicht (mehr) – sich beispielsweise vor den Jungen mit dem Ast in der Hand zu stellen, ist eine Reaktion auf verbaler Ebene möglich.

«Hey, was ist los»? «Ich sehe, dass du gerade ziemlich wütend bist, stimmt das»?

«Was hat dich denn so wütend gemacht»?

(….)

Der Junge erhält einen Raum um seine Sicht der Dinge zu erklären. Er erfährt durch die Wahrnehmung und Benennung des Vaters, dass es sich bei dem Gefühl um Wut handelt. Oft sind Kinder entwicklungsbedingt noch nicht in der Lage ihre Emotion zu benennen, geschweige denn zu regulieren. Hier gilt der Grundsatz: Emotion vor Kognition. Der Junge erfährt, ich werde ernstgenommen, gesehen, gehört in meiner emotionalen Notlage, mein Gefühl ist richtig. Ich darf sagen was ich denke und fühle!

Okay, das verstehe ich. Heisst nicht, dass der Vater damit (Verhalten) einverstanden ist.

Zum Bruder: «Und du hast wohl einen riesen Schrecken und Angst gehabt, als dein Bruder dich verfolgt hat, nicht wahr»?

Genauso kann sich der Jüngere ausdrücken, was in ihm vorgegangen ist und ihm wird Gehör verschafft. 

So und nun, was machen wir denn da?

Lädt die Kinder ein, sich an einer Lösungsfindung zu beteiligen.

Es geht gar nicht so sehr darum eine Lösung zu finden, es geht darum die Kinder in ihrer Emotion zu sehen und zu verstehen.

Was ist gewonnen, wenn wir wie im ersten Beispiel handeln? Der Konflikt ist erstens nicht angesprochen und schon gar nicht gelöst.

Der Ältere erfährt nichts über seine Gefühle. Vielmehr erfährt er, ich muss meine Gefühle in Zukunft unterdrücken, sonst bin ich nicht erwünscht und erfahre eine Konsequenz.

Er fühlt sich missverstanden und gekränkt.

Doch der Junge war wütend! Und das ist ein berechtigtes Gefühl. Nur wusste er noch keinen konstruktiveren Weg, diese Wut zu regulieren und einen anderen Weg, als mit Gegenständen zu werfen. Das ist ein Prozess, welcher sich bis ins junge Erwachsenenalter hinzieht – und abgesehen davon auch manchmal noch Erwachsenen nicht gelingt. 

Deshalb brauchen Kinder Erwachsene, die sie Co-Regulieren. (dazu in einem anderen Artikel mehr).

Szenenwechsel: Immer noch am Thunersee. Ein Junge spaziert seinem Vater hinterher und ich – und auch andere, sich dort befindende Spazierende – hören aus dem Kindermund: «Hey Alter!»

Der Vater dreht sich empört um, wissentlich, dass er einige Beobachtende um sich hat. Jetzt bloss nicht das Gesicht verlieren. «Was fällt dir ein, ich will nicht, dass du so mit mir sprichst, das sagt man nicht!»

Gut so, der Junge muss lernen, dass wir in unserer Gesellschaft einen solchen Ton nicht dulden. Er muss lernen, dass wir respektvoll miteinander umgehen.

Auch da, mögen Sie mir sagen: «stimmt doch!?»

Der Junge war gerade mal ca. fünf Jahre alt. Dieses «hey Alter! » hat er vermutlich irgendwo bei Jugendlichen gehört, welche sich durch diese Art der Kommunikation verbunden fühlen.

Der Vater darf da gelassen sein und sich nicht durch den gesellschaftlichen Druck dazu verpflichtet fühlen, einem fünf Jahre alten Jungen – der in dieser Entwicklungsphase Freude am Ausprobieren von Ausdrücken hat – eine Standpauke zu halten. 

Er kann ihm ohne eine Äusserung darauf, einfach liebevoll über den Kopf streichen, im Wissen darum, dass dies völlig entwicklungsgerecht ist. Er kann sich gewiss sein, dass sein Kind deswegen nicht ein Erwachsener wird, dessen Sprache sich unangemessen entwickelt. Er kann sich jedoch sicher sein, dass sich sein Kind an seiner eigenen Sprache orientiert und ihm als Vorbild dient. Und – ohne diese Standpauke, welche das Kind wiederum beschämen und kränken würde, die Beziehung nicht unnötig beschädigt.

Das Beste zum Schluss: Immer noch am selben Bade- und Spazierort. Ein Vater, (mir fällt gerade auf, dass sich wohl gefühlt alle Väter von Thun am See befanden) mit seinem Sohn und seiner Tochter am Ufer befindend, stürzt ganz unglücklich beim Queren des steinigen Bord des Ufers. Die Kinder taten es ihm gleich, hatten jedoch mehr Glück.

Es dauerte keine Sekunde, da kam aus dem Hinterhalt einer beobachtenden Dame die (vorwurfsvolle) Aussage an den Vater adressiert:  «Das war jetzt aber sehr gefährlich, das hätte schlimm ausgehen können!» , was wenig hilfreich war in dem Moment. Ein „das hat wohl weh getan! “ hätte gereicht.

Die Dame ist Lehrerin, wie ich später erfuhr. Wahrscheinlich hat sie vergessen, dass es sich gerade um einen erwachsenen Vater handelt und nicht um eines «ihrer» Kinder – welches abgesehen davon, ausser dem Gefühl – «ich hab`s vermasselt», nichts gelernt hätte.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s