Als Familienberaterin und Elterncoach habe ich den Anspruch, kindliches Verhalten zu verstehen, einzuordnen, entwicklungspsychologische Erkenntnisse zu berücksichtigen und konstruktive Antworten zu entwickeln. Dabei habe ich den Blick auf das ganze System, in dem sich das Kind bewegt.
Zudem gehe ich davon aus, das jedes Verhalten einen Sinn hat und es sich lohnt bei Kindern zu erfahren, welches Gefühl dem Verhalten zugrunde liegt und welches emotionale Grundbedürfnis das Kind gerade versucht ins Gleichgewicht zu bringen.
„…das Verhalten der betroffenen Kinder verstehbar zu machen. Zum „Aufhören“ benötigen Kinder daher Fachpersonen, die bereit sind, ihre Not zu sehen, und die versuchen, die Emotionen hinter dem Verhalten zu erkennen“. Es ist genau so wichtig, dass diese Fachpersonen bereit sind, auf sich selbst zu hören, die ihre eigenen Emotionen (an)erkennen und einen hilfreichen Umgang damit finden.
„Sich mit den „guten Gründen“ hinter einem herausfordernden Verhalten zu beschäftigen, bedeutet, sich mit den Problemen, die Kinder haben, zu beschäftigen und nicht mit den Problemen die Kinder machen.“
Quelle: Kinderschutz Schweiz Kartenset „Hör auf mich!“
Was sehen wir:
Ein Kind verhält sich zunehmend respektlos, ist beleidigend, verweigert Anweisungen und kooperiert an verschiedenen Stellen nicht mehr. Vermehrt reagiert es mit starken Wutausbrüchen.
Offensichtlich ist das Kind in grosser Not und in seiner Emotionsregulation stark eingeschränkt. Kinder benötigen übrigens die gesamte Kindheit für diese Entwicklung, um sich dann im Erwachsenenalter auch selbst regulieren zu können.
Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass Kinder in bestimmten Fällen nicht mehr kooperieren.
- Zum einen, wenn sie überfordert sind, im Sinne eines hohen Erwartungsdruck; das geschieht, wenn sie sich zu lange und zu sehr nach den Wünschen und Erwartungen der Bezugspersonen (Eltern, Lehrer, Erzieher etc.) richten müssen und über einen längeren Zeitraum in eine Überkooperation geraten.
- Oder ihr Vertrauen in die Beziehung beschädigt wird oder ganz abhanden kommt; das geschieht, wenn sie verletzt oder gekränkt werden, ihre Persönlichkeit nicht geachtet und ihre emotionalen Bedürfnisse missachtet werden.
Niemals kündigen Kinder von sich aus die Zusammenarbeit mit uns Erwachsenen auf. Und nie geschieht eine solche Verweigerung grundlos. Es ist immer auch ein Ausdruck dafür, dass im Beziehungsgeflecht etwas in Schieflage geraten ist. Strafen verstärken die Überforderung oder Kränkung noch, die Kooperationsbereitschaft der Kinder sinkt rapide für den Moment und kann auch langfristig beeinträchtigt werden.
Durch Strafen und Konsequenzen nimmt das unerwünschte Verhalten nicht ab, sondern eher zu. Es entsteht eine ungünstige Machtspirale, aus der ein Ausstieg nur schwer gelingt. Letztlich sind sie das Tor zum Machtkampf, verschärfen negative Einstellungen und Haltungen auf beiden Seiten und können auch problematisches Verhalten bei Kindern verfestigen. Es lernt nur: ich muss gehorchen, sonst erfahre ich emotionale Schmerzen.
Kinder erleben durch Bestrafung Demütigung und Ablehnung. Sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Sie erfahren, dass sie so wie sie sind, nicht geliebt werden, dass ihr Gefühl falsch ist – dass sie falsch sind.
Strafen haben trennende Wirkung und schaffen emotionale Distanz. Dabei brauchen Kinder jedoch eine innige Verbindung. Sie benötigen verlässliche Bindungspersonen, die ihnen bei der Stressbewältigung helfen. Gerade in diesen Situationen benötigen Sie Erwachsene, welche ihr Verhalten lesen können, das Gefühl welches darunter liegt erkennen, welches das Verhalten motiviert und spüren welches Grundbedürfnis (Sicherheit, Autonomie, Verbindung) sich wertvoll fühlen, in seinen Anliegen verstanden, ernst genommen, gesehen und gehört zu werden.
Sie verursachen Ärger, Wut und den vorerst noch unterdrückten Impuls nach Rache. Das kann sich dann auch gegenüber andere Personen richten. Oft finden diese unterdrückten starken Gefühle erst im Erwachsenenalter ihren destruktiven Ausdruck, dann aber unkontrolliert und heftig.
„Erschwerend kommt hinzu, dass die Versuche, den herausfordernden Bewältigungsstrategien der Kinder im Alltag mit klassischen pädagogischen Mitteln zu begegnen (zum Beispiel mit Belohnungs- und Bestrafungssystemen), häufig ins Leere laufen oder diese gar noch verstärken. Bei Fachpersonen kann dies schnell zu Resignation oder Ärger führen, was sich wiederum verstärkend auf das Verhalten der Kinder auswirkt.“
Quelle: Kinderschutz Schweiz „Hör auf mich!“
Wenn wir nun anhand dieser Kenntnisse versuchen, Zusammenhänge zwischen der momentan herausfordernden Situation herzustellen, gelingt womöglich ein Perspektivwechsel und ein Verständnis für das Verhalten.
Wie wir früher dachten:
Ein wütendes, schlagendes und schimpfendes Kind ist unerzogen! Das muss ich unterbinden! Was denken bloss die anderen? Ein solches Verhalten muss Konsequenzen haben. Es muss lernen, dass so ein Verhalten in unserer Gesellschaft nicht toleriert wird. Es muss spüren, dass so ein Verhalten falsch ist.
Was wir heute wissen:
Dein Kind erzählt nichts über dich, sondern spricht über sich selbst. Es erzählt von seiner Kränkung und seiner Wut. Es hat starke Gefühle und kann diese noch nicht regulieren oder benennen. Es fühlt sich unverstanden, einsam und allein, traurig, wütend oder ärgerlich.Dein Kind erzählt von seinen Gefühlen und macht auf seine emotionalen Bedürfnisse aufmerksam.
Wenn wir das Verhalten verbieten, bestrafen oder bewerten, werden folgende Botschaften gesendet. „Du bist so, wie du bist nicht ok. Wütend zu sein ist nicht in Ordnung. Deine Gefühle sind nicht richtig und wichtig!“ Essenzielle Entwicklungsschritte werden unterdrückt, Gefühle werden abgespalten und im Körper gespeichert.
So lass ich doch nicht mit mir reden!
Hier spricht dein eigenes “ inneres Kind“ in dir. Es sind alte Gefühle oder Verletzungen aus frühen Zeiten welche hochkommen. Du darfst den Fokus auf dich richten. Es hat nichts mit der aktuellen Situation zu tun. Du fühlst dich womöglich kritisiert, gekränkt, nicht gesehen oder du fühlst dich gerade als Mutter, Vater oder Lehrperson/Erzieher*in in Frage gestellt. Hier bist du bei dir und deinem Gefühl und kannst so nicht in Kontakt zu dem Kind treten. Das Kind ist nicht verantwortlich für deine Gefühle. Es mag wohl dazu beigetragen haben, dass du dich so fühlst, ist jedoch nur Auslöser und nicht die Ursache.
Wie ich heute damit umgehe:
Wechsle die Perspektive! Gehe nicht auf das Verhalten ein. Das Kind ist in Not, es würde anders reagieren, wenn es entwicklungsbedingt könnte. Es wäre gut, wenn Du in solchen Momenten weniger auf die Form des Ausdrucks (wir sehen hauen, schimpfen etc. auf der Verhaltensebene) eingehst, sondern mit der Gefühlsebene Kontakt aufnimmst. Was für ein Gefühl hat wohl das Verhalten motiviert?
Versuche deine eigenen Gefühle zu regulieren im Wissen, dass sie jetzt gerade nichts mit der Situation zu tun haben. Fühl dich empathisch in die Lage des Kindes ein. Lass dich nicht durch andere verunsichern (Öffentlichkeit). Sprich das Thema in deiner nächsten Umgebung an und informiere sie, damit auch sie verstehen, dass es entwicklungsgerecht ist. Die Sorge, dass das Kind später solche Kraftausdrücke benutzt ist unbegründet. Viel mehr erfährt es, dass es ernstgenommen, sich gesehen und wertvoll fühlt, wenn wir diese Wutausbrüche einfühlsam begleiten.
Was das Kind jetzt braucht:
Das Kind braucht gerade jemanden, der sich ihm zuwendet und ihm hilft seine starken überflutenden Gefühle zu regulieren. Es braucht jemanden an seiner Seite, welcher signalisiert: „Ich verstehe dich und dein Gefühl.“ Wende dich nicht von dem Kind ab. Schicke es nicht weg. Lass es mit diesen starken Gefühlen nicht alleine. Lass ihm Raum für die Gefühle und hilf ihm diese zu verstehen und kennenzulernen indem du sie benennst. Womöglich kannst du spüren, worum es auf der Bedürfnisebene ging?