In Zeitungsartikeln, Fachzeitschriften oder als Titel eines Bestsellers werden Kinder oder Jugendliche auch schon mal als „Tyrannen“ bezeichnet. Diesen Ausdruck finde ich despektierlich, denn genau genommen werden diese Kinder mit «Gewaltherrschern» auf eine Ebene gebracht – also, als rücksichtslose und herrschsüchtige Menschen betitelt. Inhaltlich beziehen sich solche Artikel auf das unangemessene Verhalten der Kinder und wie sie als Eltern, in dringender Notwendigkeit, diesem entgegenzusteuern haben.
Dieser Sichtweise möchte ich eine andere gegenüberstellen: «Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht, hat es welche.» (Alfred Adler)
Ob Trotzanfall oder Verweigerung: störendes, unangemessenes Verhalten zeigt in jedem Fall ein entmutigtes Kind (ausser, es handelt sich dabei um Situationen, bei welchem Müdigkeit, Krankheit, Hunger etc. eine Rolle spielen, dies vor allem bei Kleinkindern.)
Diese Kinder befinden sich in einer „Notlage“ und ihr Verhalten scheint der einzige Weg zu sein, um ihre sozialen Grundbedürfnisse gestillt zu bekommen. Namentlich sind dies folgende: Dazugehören und sich geliebt fühlen, fähig und wirkmächtig sein, Einfluss nehmen können, Bedeutung haben, respektiert und fair behandelt werden, sich geborgen und sicher fühlen, Mut zum Wagnis haben.
Glaubt ein Kind, aus seiner subjektiven Sicht, dass es nicht dazugehört oder einen Platz in der Familie hat, versucht es mit ungeeigneten Mitteln sein Ziel zu erreichen. Es bedient sich sogenannter „irriger Nahziele“. Dieser Vorgang geschieht jedoch unbewusst und ist keineswegs eine „geplante Aktion des Kindes“. Individualpsychologisch gesehen, verfolgt jedes Verhalten und jede Handlung einen bestimmten Zweck, denn wenn es dem Kind nicht gelingt, sich durch positives Verhalten dazugehörig zu fühlen, wird es alles daran setzen, mit negativem Verhalten an sein Ziel zu gelangen. Es nimmt in Kauf, getadelt, beschimpft oder bestraft zu werden, denn ignoriert zu werden ist für das Kind noch viel schlimmer.
So lassen sich denn auch die Ziele des störenden Betragens in vier Entmutigungs-Stufen einteilen:
- Aufmerksamkeit erregen; Dahinter steht das Bedürfnis an Beteiligung.
- Macht demonstrieren; Dahinter stehen das Bedürfnis nach Selbständigkeit und der Wunsch Einfluss nehmen zu können.
- Vergeltung und Rache; Das Kind möchte Fairness und Gleichwertigkeit.
- Unfähigkeit unter Beweis stellen; Das Bedürfnis nach Kompetenz möchte hier gestillt werden.
Sind sie als Eltern, Erzieher oder Lehrer in der Lage, das Grundbedürfnis zu erkennen, können sie aus einer anderen Perspektive reagieren und handeln. Restriktives Handeln bei Fehlverhalten führt zwangsläufig zu einer Verstärkung. Kinder sind sich in der Regel der Ziele ihres Fehlverhaltens nicht bewusst, jedoch der Konsequenzen sehr wohl. Sie lernen welche Reaktion sie bekommen, wenn sie Fehlverhalten zeigen. Es mag sich paradox anhören, aber lieber mit „Boshaftigkeit“ oder mit schlechtem Benehmen Aufmerksamkeit bekommen oder als „Störenfried“ gelten, als sich unbedeutend, unfähig oder nicht dazugehörend fühlen. Lieber in einem negativ besetzten Feld „glänzen“ und dort „der Beste“ zu sein, als gar keine Bedeutung zu besitzen.
Entscheidend ist, wie Sie in der Lage sind das Fehlverhalten zu deuten, zu verstehen und wie Sie darauf reagieren.
Sind alle drei Stufen der irrigen Nahziele durchlaufen und führen beim Kind/Jugendlichen nicht „zum Erfolg“, kann es sein, dass mit passiv-destruktivem Verhalten versucht wird, Niederlagen zu entkommen. Durch das „Unter Beweis stellen der eigenen Unfähigkeit“, verfolgt das Kind das Ziel nun in Ruhe gelassen zu werden um jeglichen Erwartungen aus dem Weg zu gehen. Das Kind/Jugendlicher gibt auf.
Es erfordert viel Bereitschaft und ein psychologisches Gespür, dem Verhalten und dem damit angestrebten Ziel auf die Schliche zu kommen. Die Gründe können vielfältig sein und es lohnt sich in jedem Fall, näher hinzuschauen, welche Beweggründe zu destruktivem Verhalten des Kindes/Jugendlichen führen. Im Eltern – Kind Coaching werden Schule, Umfeld, Familie, Geschwister etc. miteinbezogen und beleuchtet um mögliche Quellen der Entmutigung festzustellen. Welche Anteile sind in der subjektiven Meinung des Kindes zu suchen und welches sind Interaktionen des Umfeldes die nicht dienlich sonder eher kontraproduktiv wirken können.
Wenn also wieder einmal von „Tyrannen-Kindern“ die Rede ist, ziehen sie nicht allzu vorschnelle Rückschlüsse über das Verhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen und verurteilen sie den Betroffenen nicht zum Vornherein.
Lisa Werthmüller